16 February 2018

Meine finanzielle Autobiografie 2007–2017 Closeup II

1000 Euro brutto, denkt sie, die Verkäuferin in Vollzeit, dort, an einer Bushaltestelle sitzend, durch die Neonbeleuchtung von der winterlichen Dunkelheit abgehoben, in den Fokus gerückt; dort, an einer von vielen Karl-Marx-Straßen.

1000 Euro brutto. Das war und ist für diese – jede – Region unterdurchschnittlich. Bis zu 2000 Euro brutto wären in dieser Stadt, um diese Karl-Marx-Straße gespannt, möglich: dank über 40 Jahren Berufserfahrung mit Leitungsposition, auch wenn in den Dokumenten zulange ‚mithelfende Ehefrau‘ stand. Das ahnt sie. Sorge und Angst überwiegen. (Dank der großen Witwenrente, so kann der Leser sich beruhigen, sind es wieder – immerhin – 1000 Euro netto und davon, die Erfahrung bezeugt es, kann sie neben Miete, Nebenkosten und Haushaltsgeld sogar das Auto abbezahlen, das ihr nach dem Tod des Mannes geblieben ist.) 1000 Euro netto.

Eine Frau an einer Bushaltestelle ruft mir etwas zu und reißt mich aus meinen eigenen Gedanken, in denen ich beim Blick auf die Straße – durch Frost und Nieselregen in ein Kleid aus Perlmutt, oder besser: in ein glitzerndes Universum verwandelt; die Unendlichkeit zu Füßen – verloren war. „I’m a connoisseur of roads“, fällt mir ein. „I’ve been tasting roads my whole life. This road will never end. It probably goes all around the world.“ Ich weine beinahe.

Ich möge ihren Hund kurz ausführen. Nur ein paar Meter mehr für den Hund. Sie schaffe dies nicht mehr. Sie sei müde. Ihr Hände seien geschwollen. Und erst die Füße. Immer sind es die Füße, die schmerzen.

Der Hund, ein Havaneser, und ich blicken uns fragend an. Zögernd ergreife ich die Leine und gehe langsam los.