29 November 2011

"Gott ist gleich 13"

Diskutiert wurde viel. Über Wissenschaft. Über Form. Ausgelöst durch das mangelnde Wissen über wissenschaftliche Arbeitstechniken, oder durch den bewussten Einsatz jenes Zitierens als Ritual innerhalb der Doktorarbeiten deutscher Spitzenpolitiker. Das minder überraschende Fazit auf diesen Skandal: Intertextualität ist in der so genannten Wissenschaft unerwünscht und Roman ist ein Wort, das für viele Textgattungen gilt. Doch ebenso wie die Einhaltung der Form einen Text als wissenschaftlich auszeichnet, ist es zugleich ihr Gegenstand – sinn- und wahrheitsstiftend. Nicht unbedingt. Zum Glück. Ein kurzes Gespräch über Alan Sokal und Paul Wittgenstein mit Tilman Mühlenberg, vermeintlicher Kulturwissenschaftler, Pilger, Musiker und Gründer des Instituts für Zeitgenossenschaft. Das Gespräch beruht auf einer Begegnung, die Mitte August in der Düsseldorfer Altstadt stattfand – wo sonst.

Rekapitulieren wir noch einmal: Ein Stichwort, dass zu später Stunde in Düsseldorf fiel, war die Sokal-Affäre. Für alle noch einmal: Was verbirgt sich dahinter?

Die Geschichte ist im Prinzip ein alter Hut, daher die kürzestmögliche Zusammenfassung: Irgendwann Mitte der 90er Jahre ärgert sich der amerikanische Physikprofessor Alan Sokal darüber, dass die zeitgenössischen Geisteswissenschaften – allen voran die Vertreter des französischen Poststrukturalismus – von den Naturwissenschaften halbverstandene Begriffe entlehnen, um ihren Thesen einen seriöseren Anstrich zu verleihen, damit aber letztlich nur eleganten Unsinn produzieren. Er schreibt also einen Aufsatz mit dem Titel 'Transgressing the Boundaries – Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity', in dem er ausgehend von Niels Bohrs Thesen zur Quantentheorie auf den Zusammenhang von Physik und Politik schließt und eben genau dies bewusst erzeugt: eleganten, poststrukturalistisch klingenden Unsinn. Da im Jahre 1996 das Verlangen nach solchem transdisziplinären Denken scheinbar sehr groß war, gelang es Sokal, seinen Hoax von der Redaktion unbemerkt in der sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift 'Social Text' zu platzieren. Der Rest ist akademische Eitelkeit, Sokal entlarvte seine Parodie in wiederum einer anderen Zeitschrift, genoss seinen Triumph und schrieb ein Buch darüber.

Welche Wirkung hatte diese Debatte auf dich?

Es liegt natürlich nahe, an der Relevanz des geisteswissenschaftlichen Diskurses an sich zu zweifeln, wenn es möglich ist, einen Text, der offensichtlich nur aus 'elegantem Unsinn' (Titel des besagten Sokal-Buches) besteht, in einer angesehenen Zeitschrift zu veröffentlichen und dort auch noch beachtliches Lob für seine Arbeit einzustreichen. Aber interessanter ist vielleicht ja doch, was die Affäre über das akademische Milieu und dessen eigentümliche Politik der Eitelkeiten verrät.

Und das wäre? Eine Beobachtung ist natürlich, dass die Wissenschaft einfachen Ritualen unterliegt und wenn diese Konventionen eingehalten bzw. erfüllt werden, gelingt dieser 'wissenschaftliche Pakt'.

Letztlich unterliegen natürlich alle Formen der Arbeit immer dem Ritual. Beim Ritual des wissenschaftlichen Publizierens führt das allerdings häufig zu einem Zwang, der die Frage, die am Anfang einer schriftlichen Arbeit steht, eben nicht mehr lauten lässt: "Was kann ich zur Lösung dieses Problems beitragen?", sondern vielmehr: "Was könnte ich denn jetzt mal wieder schreiben?" Das Aufsatzschreiben wird nicht selten zum Selbstzweck, und bei den Reaktionen auf die Sokal-Affäre sind wir augenblicklich im autopoetischen System der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und Lauterkeit. Es geht in den auf die Affäre folgenden Auseinandersetzungen ja gerade nicht um die inhaltlichen Differenzen zwischen Philosophie und Physik, sondern ausschließlich um formale Anklage- und Rechtfertigungsrituale. Was den überzeugten Linken Sokal an den Poststrukturalisten inhaltlich störte, nämlich ihre vermeintliche politische Indifferenz und ihr 'epistemischer Relativismus', kam überhaupt nicht zur Sprache.
Übrigens: Die Frage nach wissenschaftlicher Lauterkeit, also nach dem Gelingen des 'wissenschaftlichen Pakts' wurde im Kontext der Dissertation dieses deutschen CSU-Politikers ja zuletzt ausgiebig öffentlich diskutiert. So froh man sein kann, dass der Typ jetzt erst einmal weg ist, so verlogen kam mir diese ganze Diskussion doch von Anfang an vor. Auf einmal entdeckt die Öffentlichkeit ihren Sinn für die akademische Integrität und vergleicht Fußnoten, anstatt die spannenderen Fragen zu stellen: Warum schreibt jemand überhaupt eine Dissertation, die ihn offensichtlich gar nicht interessiert? Was läuft denn bitte schief in dem akademischen Dissertationsbetrieb? Und wieso überhaupt gibt es diesen Exklusivstatus des Doktorgrades im Personalausweis? Das suggeriert ja, dass der Dr. ein Namenszusatz sei, und dann schreiben es sich alle Leute auch außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes auf ihre Klingelschilder und in ihre E-Mail-Signatur. Das ist ja der Schwachsinn.

Aber was für Chancen bergen solche Affären für die Wissenschaft?

Wenn man davon ausgeht, dass in der Redaktion von 'Social Text' nicht schlichtweg der Fehler passiert ist, dass niemand den Aufsatz aufmerksam gelesen hat, dann wäre es doch interessant gewesen zu fragen, unter welchen Umständen wir manche Dinge als Wissenschaft und andere als esoterischen Nonsens bezeichnen, bzw. inwiefern der Grad zwischen Unsinn und Wissenschaft manchmal ein ziemlich schmaler sein kann. Außerdem hätte man auch darüber diskutieren können, inwiefern man mit diesem Paradigma des 'everything is connected in the end' etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Die Vorstellung, alles auf der Welt hänge mit allem zusammen, also auch die Quantentheorie mit der Psychologie, wurde übrigens maßgeblich durch einen Physiker, nämlich Max Born, angestoßen, der diese Idee einer neuen Transdisziplin die 'Quantentheorie der menschlichen Angelegenheiten' nannte. Von da ist es dann ja eigentlich auch nicht mehr weit bis zu Lacan, den Sokal in seinem Aufsatz in diesem Kontext ins Spiel bringt – als Satire versteht sich. Man kann natürlich kritisieren, dass solchen Verknüpfungen gewissermaßen ein paranoider Gestus zugrunde liegt.
Zuletzt hätte man aber sicher auch Fragen nach einer disziplinären Überheblichkeit stellen können. Aber am Ende siegen eben die Eitelkeiten: Die Physiker fühlen sich bestohlen und die Philosophen sich von Kleingeistern missverstanden.

Sind es vielleicht solche Ereignisse wie die Sokal-Affäre, die den Ernst für die eigene wissenschaftliche Arbeit entthronen?

Es mutet schon etwas merkwürdig an, dass sich Wissenschaftler auf so umständlichen Wegen wie der Veröffentlichung von parodistischen Aufsätzen über so etwas Grundlegendes wie die Frage, ob es eine objektive Wirklichkeit gibt, streiten. Denn darum geht es ja letztlich in der Sokal-Affäre. In seinem nach dieser Affäre veröffentlichten Buch beteuert Alan Sokal, dass er im Gegensatz zu vielen postmodernen Philosophen eben fest an eine objektive vom Beobachter unabhängige Welt glaubt. Und diese Art der Auseinandersetzung entlarvt dann neben der Tatsache, dass Unsinn und Wissenschaft nahe beieinanderliegen, eben vor allem die ungeheure Eitelkeit des akademischen Rituals des Aufsatzschreibens und darauf Antwortens. Für die eigene Arbeit kann dies bedeuten, dass man eine große Angst davor entwickelt, dieses Ritual naiv zu befolgen und überflüssige Bücher zu Themen, die niemanden interessieren, zu produzieren. Die Kehrseite ist natürlich, dass man bei zu großer Zurückhaltung eventuell so endet wie Paul Wittgenstein.

Liegt die Eitelkeit deiner Meinung in der Macht des (gegenseitigen) Zitats oder ausnahmslos in dem Publikationszwang in Form von Buch oder Aufsatz?

Die Macht des Zitats ist in diesem Zusammenhang auch ein interessanter Aspekt, über den ja in der eben angesprochenen Plagiarismus-Debatte viel diskutiert wurde. In der Sokal-Affäre geht es aber um noch etwas viel Grundlegenderes, nämlich um die Macht, bestimmte Begriffe zu prägen und 'richtig' gebrauchen zu dürfen. Philosophen zitieren Physiker, die sie offenbar nur halb verstanden haben, und werden dann wieder von Physikern zitiert, die ihnen vorwerfen, sinnloses Wortgeklingel zu veranstalten, dann wiederum melden sich die Philosophen und sprechen von poetischer Öffnung usw. Ein Akt der Eitelkeit jagt den nächsten.

Kommt daher auch dein Interesse für Personen wie Paul Wittgenstein - Philosoph, Tennisprofi, Hockeystar, Segler, Rad- und Autorennfahrer, Wasserballer, Eintänzer, Versicherungsangestellter und vor allem "Genie ohne Resultate"?

Ja, natürlich, und ich glaube, ich muss dazu auch ein wenig ausholen. Vielleicht sollte man vorweg sagen, dass Paul Wittgenstein der Neffe des großen Philosophen Ludwig Wittgenstein war. Paul war ein Tausendsassa, wie er im Buche steht, dessen philosophisch-wissenschaftliche Ambitionen im Lichte seiner sonstigen Leidenschaften, Eintänzer, Wasserballer oder Rennfahrer zu sein, in einem angenehm relativierenden Licht erstrahlen. Das macht ihn natürlich höchst sympathisch. Es gibt aber noch etwas, das mich an Paul Wittgenstein interessiert, nämlich die Tatsache, dass er auf abenteuerliche Weise diesem wissenschaftlichen Schreibmechanismus entkommen ist. Es sind ja lediglich sieben Seiten seines ‚groß angelegt gedachten' Werkes 'Gott ist gleich 13. Eine Meditationen über Gott, Sport, Theater und Musik' erhalten, und die Tatsache, dass sich aberwitzige, im Grunde ganz wunderbare Geschichten um den Verlust des restlichen Manuskripts ranken, lassen den freilich Verdacht entstehen, dass dieses Manuskript nie existiert hat. Paul Wittgenstein hat sich dann immer Anekdoten zu dem Verschwinden des Papierstapels einfallen lassen, wie z.B. jene, dass er einer Sängerin nach einer Opernaufführung aus lauter Begeisterung die einzige Ausführung schenkte, die diese dann natürlich umgehend entsorgte. Und dennoch oder vermutlich eher gerade deswegen hat er bei seinen Mitmenschen einen großen Eindruck hinterlassen und das Wiener Kaffeehaus- und Kulturleben der 1960er und 70er Jahre entscheidend mitgeprägt. Er hat seine Theorien zu Religion, Mathematik, zur Oper oder zum Fußball mit so großer Geste und so überzeugend vorgetragen, dass er eben auch bei Intellektuellen und Künstlern hohes Ansehen genoss – als ausschließlich 'praktizierender' Philosoph, der nie eine Zeile zu Papier brachte. Paul Wittgenstein war also ein großer Verfechter der Anekdote und des mündlichen Aphorismus, und das ist ja auch alles, was von ihm geblieben ist, und letztlich besteht sein 'wissenschaftliches Bemühen' und sein vermeintliches Scheitern auch nur aus einer Anekdote, also löst sich Paul Wittgenstein beinahe vollständig in Narration auf. Im Prinzip wissen wir alles über ihn auch nur aus Erzählungen von Zeitgenossen und eben aus diesem wunderbaren Buch seines einzigen Freundes Thomas Bernhard. Dieser Umstand führt ihn übrigens viel näher an seinen berühmten Onkel, als ihm vermutlich lieb war, denn, wenn man so will, ist Ludwig Wittgenstein ja ein Philosoph, der ausschließlich in Aphorismen geschrieben hat.
Gleichzeitig – und das bringt uns dann zurück zur Sokal-Affäre und zur Paranoia der Verknüpfungen – war Paul das, was man lapidar einen Irren nennt, genauer gesagt eben ein Paranoiker, der die meiste Zeit seines Lebens in psychiatrischen Anstalten verbrachte und gedanklich an einem Werk arbeitete, in dem er alles, was ihm wichtig war auf der Welt, miteinander verbinden wollte – Religion, Oper, Theater, Sport, Philosophie, Mathematik. Paul Wittgenstein hat man seine Wissenschaftlichkeit nicht abgenommen, bei ihm ist nur der Unsinn geblieben. In einem Wikipedia-Eintrag steht unter seinem Namen trotzdem ‚Philosoph, Schriftsteller und Mathematiker‘.

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